Was ist eigentlich Neurodiversität?Neurodiversität ist das Spektrum der Variationen individueller Gehirnfunktionen und Verhaltensmerkmale und wird als eine Form menschlicher Vielfalt verstanden, die denselben sozialen Dynamiken unterliegt wie andere Formen der Vielfalt (einschließlich der Dynamik von Macht und Unterdrückung). Der Begriff hat mittlerweile auch in Wissenschaft, Literatur und Praxis zunehmend Fuß gefasst hat, insbesondere im englischsprachigen Raum.
Was bedeutet "neurodivergent", "neurotypisch" usw.?Neurodivergent, Neurodistinkt, Neurospicy, Neurominoritär, Neuroexpansiv (synonyme Adjektive) / Neurodivergenz, Neurominorität (synonyme Nomen) beschreibt Personen, deren neurokognitiven Gehirnfunktionen von jenen abweichen, welche die Gesellschaft als innerhalb der Norm liegend, also als neurotypisch oder Neuromajorität, definiert. Neurodivergenzen sind beispielsweise: Autismus, AD(H)S, Dyspraxie, Tourette-Syndrom (TS), Bipolarität, Dyskalkulie, Dyslexie, Synästhesie, Hyperlexie und weitere. Es sind aktuell gemäß persönlicher Präferenzen viele verschiedene Selbstbezeichnungen neurodivergenter Menschen in Nutzung und Weiterentwicklung.
Neurodivers oder Neurodiversität beschreibt die Kombination oder Berücksichtigung von neurodivergenten und neurotypischen Menschen. Ein Beispiel: Meine Arbeit ist neurodivers, da sie sowohl Neurominoritäten als auch die Neuromajorität berücksichtigt. |
Vorträge, Impulse, Workshops & kreatives Schaffen zu (intersektionaler & dekolonialer) NeurodiversitätWenn ihr Lust habt, euch noch weiter mit mir zu Neurodiversität auszutauschen, fragt mich gerne an. Verratet mir gerne schon möglichst viel über das Anvisierte, das gewünschte Formate, die Konditionen und die Rahmenbedingungen.
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Warum, wozu und weshalb Neurodiversität?Das selbst-geprägte Konzept der Neurodiversität bietet eine Möglichkeit, die Deutungshoheit über Begrifflichkeiten, Kontexte und Einordnungen in die Verantwortung neurodivergenter Menschen selbst zu verlegen. Aktuelle Schätzungen sehen 20 % der Menschen in das Spektrum der Neurodivergenz fallen, diese Schätzung ist in den letzten Jahren gestiegen und könnte es weiter tun, denn die menschliche Vielfalt ist komplexer als unsere gesellschaftlichen Normen es auf den ersten Anschein zulassen.
Neurodivergente Gehirnfunktionen laufen nachgewiesener Weise anders ab, als die der neurotypischen Mehrheit. Zu bedenken ist hierbei jedoch auch, neurodivergente Gehirnfunktionen sind vollkommen individuell von einer Person zur nächsten, selbst bei jenen mit der vermeintlichen gleichen Diagnose. Was hier u.a. sichtbar wird, ist, dass die bisherige formelle Pathologisierung und Kategorisierung von Neurominoritäten, eine ist, die von äußerer neurotypischer Wahrnehmung auf die Betroffenen blickt, und nicht eine, die die tatsächlichen Lebensrealitäten und Wahrnehmungen der neurodivergente Menschen selbst ausreichend berücksichtigt. In meiner Erfahrung z.B. habe ich öfters mit neurodivergenten Personen mit anderen offiziellen Diagnosen viel gemeinsam, in der Wahrnehmung und Verarbeitung, während wir uns im äußeren Ausdruck hiervon jedoch stark unterscheiden. Hätten Neurodivergente Menschen selbst Kategorisierungen entwickelt, wäre es möglicherweise zu ganz anderen Gruppierungen - oder vielleicht auch einfach gar keinen - gekommen. Hinzu kommt der Aspekt der Pathologisierung selbst, der Menschen als krank, eine Störung habend, funktionierend, nicht funktionierend etc. einordnet, was zu Schambelastung, Vorurteilen, Ausgrenzungen und Bevormundung von neurodivergenten Menschen führt. Neurodiversität dagegen setzt den Fokus auf gleichberechtigte Teilhabe, Abbau von Diskriminierung und angemessene Unterstützungsmöglichkeiten für neurodivergente Personen, sowie eine Auflösung schädlicher Stereotype, Zuschreibungen und unbewusster Voreingenommenheiten (unconscious biases). Es fehlen Freiräumen und Entfaltungsmöglichkeiten für neurodivergente Personen, kommt zu andauerndem Sanismus, Ableismus und Diskriminierungen uns gegenüber. Eine unvollständige Liste von Beispielen:
Hierbei gehen enorme menschliche Potenziale verloren, nicht nur für die Betroffenen, sondern gesamtgesellschaftlich. Menschen in ihrer wahrhaften Vielfalt anzuerkennen und ihnen tatsächliche Teilhabe zu ermöglichen ist unser aller Recht für uns alle. Doch auch Räume, Arbeitsorte, Aktivitäten etc., die für neurodivergente Personen mitgedacht wurden, im Bestfall von ihnen aus-/mitgestaltet wurden, werden hierdurch barrierefreier, vielfältiger, sozial-bewusster und somit zukunftsgewandter. Das Einräumen von mehr Freiraum und Bedarfsorientierung bei Kommunikations- und Umgangsweisen verhilft zu einer insgesamt effizienteren und präziseren Kommunikation. Dass meine Wahrnehmungserfahrungen von der Norm abweichen, wurde mir schon in frühester Kindheit bewusst, allerdings lernte ich auch jene meiner Umfelder nachzuvollziehen und zu berücksichtigen. Zwar war dies dann leider oft eine einseitige Bemühung und Lernerfahrung, aber heutzutage habe ich die Fähigkeit in all meiner Arbeit eine Vielfalt von Erfahrungswelten (neurodivergenten und neurotypischen) mitzudenken. Eigene Wege und neue Lösungsansätze finden, kreativ Denken, flexibel auf die Kommunikations- und Denkweisen anderer eingehen, wandlungsfähige Arbeitswelten und Lebensweisen entwickeln, auch andere in diesen Prozessen zu unterstützen - das sind nur ein paar Kompetenzen, die ich entfaltete, als neurodivergente Person in einer neurotypisch ausgerichteten Welt. Warum wurde ich eigentlich erst im Erwachsenenalter diagnostiziert?Internationale Studien (die ihrerseits leider ein rein binäres Geschlechtersystem anwenden) belegen, dass Neurodivergenz unter-diagnostiziert ist in weiblichen Personen (was sich in der intensiveren Auseinandersetzung, eigentlich meist auch auf nicht-cis-männliche Personen bezieht), ebenso sind auch BIPoC (Schwarze Menschen, Indigene Menschen & People of Colour) / rassifizierte Personen nachgewiesener Weise unter-diagnostiziert in z.B. AD(H)S und Autismus. Insbesondere im deutschsprachigen Raum mangelt es hier zudem an konkreten Studien und etwaigen Auseinandersetzungen. Das heißt also: Personen, auf die eine Vielzahl von Diskriminierungen und unbewussten Voreingenommenheiten (unconscious biases) einwirken, werden von den Diagnostik-Strukturen und -Mechanismen mit einer viel geringeren Wahrscheinlichkeit erfasst.
Das hat eine komplexe Vielzahl von Gründen. Eine Rolle spielen hierbei stereotypische - vorwiegend falsche - Zuschreibungen über Autismus und Neurodivergenzen insgesamt, die z.B. bei Lehrpersonal und Umfeldern Bilder erschafften, in die ich selbstverständlich nicht reinpasste. Dazu kommt auch maßgeblich, der Faktor der sozialen Prägung und eben weiteren Diskriminierungsfaktoren. Als Schwarze, ostdeutsche, chronisch kranke, weiblich gelesene Person (und ich formuliere das bewusst so), mit frühen gewaltsamen Erlebnissen und offensichtlichen queeren Auseinandersetzungen, zudem lange einem Umfeld extrem konservativer und überdurchschnittlich privilegierter Menschen ausgesetzt als Kind einer alleinerziehenden Mutter und mit all dem oben genannten, wurde mir schon in jüngster Kindheit sehr klar signalisiert, um keinen Preis jemals auffallen, aus der Reihe tanzen oder auch nur das kleinste Fehltrittchen machen zu dürfen, dann dies führte zu sofortiger und konsequenzenreicher Verurteilung und Ausschluss. Dass ich durch Definition der gesellschaftlichen Normen, ja schon per Existenz aus der Reihe fiel, machte dies natürlich eine unmöglich navigierbare Aufgabe. Doch dies sind letztlich prägende Erfahrungen, die dazu führen, dass zum Beispiele autistische Merkmale massiv unterdrückt und anders ausgedrückt werden, womit die betroffenen Personen noch weniger den erwarteten Stereotypen entsprechen. Also vielleicht könnten wir das auch einfach mal lassen mit den Stereotypen, ne?! |
Weitere Inputs von mir zu NeurodiversitätAutismus. Räume. Schaffen
Übrigens, ich bin autistisch. (Deutsch, Artikel, Rosa-Mag, 2021) Black Spectrum
Gesprächskreis für Schwarze neurodivergente Personen (seit 2021, ca. zweimonatliche Treffen) A.U.T.I.S.M. -
Artistically Ultimately Tangibly Intensely Shamelessly Myself (Theaterproduktion, 2023) Außerdem Inputs & Keynotes für z.B.
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Mini-GlossarAbleismus Diskriminierung, Unterdrückung oder soziale Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung. (vom englischen "able" abgeleitet) Binäres Geschlechtersystem Das binäre (westliche) Geschlechtersystem geht davon aus, dass es nur zwei Geschlechter, sowie hiermit verbundene soziale Rollen gibt, nämlich männlich und weiblich. Das System verdrängt somit z.B. intergeschlechtliche, non-binäre, trans*, gender-fluide, agender und weiteren Identitäten. (vom lateinischen "binarius" abgeleitet) Cis-(gender) Bezeichnet Personen, deren Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt. (vom lateinischen "cis" abgeleitet) Dekolonial/ität Eine Denkschule, die darauf abzielt, sich von eurozentrischen Wissenshierarchien und Lebensweisen in der Welt zu lösen, und sich mit Perspektiven vor, jenseits und nach der Kolonialisierung durch westliche Kulturen widmet. Intersektional/ität Ein Konzept, um zu verstehen, wie die verschiedenen sozialen und politischen Identitäten einer Person zusammenwirken und unterschiedliche Formen von Diskriminierung und Privilegien hervorbringen. (vom englischen "intersections" abgeleitet) Sanismus Diskriminierung, Unterdrückung oder soziale Vorurteile gegenüber Personen, die u.a. als neurodivergent, sogenannt kognitiv eingeschränkt oder psychisch krank eingeordnet werden. (vom englischen "sane" abgeleitet) |
Hinweis zu den InhaltenHier werden persönliche Erfahrungswerte und wissenschaftliche Recherchen zum Thema Neurodiversität ausgeführt. Nichts hiervon - oder jemals - kann oder soll für die Erfahrungen aller neurodivergenter Menschen sprechen, denn dies ist eben unmöglich (darum geht es ja). Quellen sind ggf. verlinkt, sowie unten aufgeführt.
Weiterführende QuellenVerlinkungen zu Quellen oder weiterführenden Informationen dienen der weiteren Kontextualisierung, spiegeln jedoch nicht unbedingt meine persönlichen Meinungen wider, reproduzieren unter Umständen auch diskriminierende Sprache.
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